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Im Gespräch mit … Margarete Blank und Martina Heland-Gräf

Augsburg, Februar 2016. „Es ist normal, verschieden zu sein“, sagte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1993. „Anderssein ist ein Tabu“, sagt gut 20 Jahre später Margarete Blank vom Bayerischen Landesverband Psychiatrie-Erfahrener e. V. Für sie ist die massivste Barriere die Haltung der Umwelt gegenüber psychisch kranken Menschen. Gemeinsam mit ihrer Vorstandskollegin Martina Heland-Gräf sorgte Margarete Blank für ein Gespräch mit vielen Aha!-Momenten.

Illustration: mehrere farbige Köpfe, dazwischen Sprechblasen.

Über Margarete Blank und Martina Heland-Gräf

Porträtfoto: Martina Heland-Gräf Porträtfoto: Martina Heland-Gräf

Martina Heland-Gräf (Foto) und Margarete Blank arbeiten im Vorstand des Landesverbandes Psychiatrie-Erfahrener e. V. Sie haben selbst Erfahrung mit psychischen Erkrankungen und der Psychiatrie, mit Selbsthilfegruppen – und mit Barrieren.

Unsere Meinung

„Barrierefreiheit heißt für mich: eine echte Chance für einen Platz in der Gesellschaft.“
Margarete Blank

„Für mich bedeutet Barrierefreiheit, dass ich mich nicht jedem erklären muss.“
Martina Heland-Gräf

Eine Erklärung vorweg …

Von einer psychischen Erkrankung spricht man, wenn die Wahrnehmung, das Denken, Fühlen und/oder Verhalten eines Menschen über einen längeren Zeitraum so verändert ist, dass er oder sie darunter leidet. Es gibt viele verschiedene Formen psychischer Störungen. Oft treten sie in Episoden auf; dazwischen können lange beschwerdefreie Zeiträume liegen.

Psychische Erkrankungen sind weit verbreitet und eine der häufigsten Ursachen für eine Arbeitsunfähigkeit. Gleichzeitig sind sie bis heute ein Tabuthema. Viele betroffene Menschen halten ihre Erkrankung wegen schlechter Erfahrungen mit ihrer Umwelt oder aus Furcht vor Abwertung, Ausgrenzung oder auch Behandlungsfehlern geheim. In einer Situation, in der es einem Menschen ohnehin schlecht geht, ist dieses „Versteckspiel“ eine zusätzliche starke Belastung.

Organisationen wie der Bayerische Landesverband Psychiatrie-Erfahrener e. V. bieten Selbsthilfe an. Außerdem gehen Verbandsmitglieder bewusst an die Öffentlichkeit, um aufzuklären, Vorurteile abzubauen und die Situation von Menschen mit psychischen Erkrankungen zu verbessern.

„Das Wichtigste ist die Haltung.“


Frau Blank, Frau Heland-Gräf: Sie bevorzugen den Begriff „Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung“. Warum?

Margarete Blank: „Psychisch krank“ ist wie ein Stempel. Der Mensch wird – dauerhaft – abgestempelt. „Psychiatrieerfahren“ drückt aus, dass es im Leben betroffener Menschen Krisen gibt, die aber nur selten ein Dauerzustand sind.

Wir vermeiden auch Begriffe wie Schizophrenie – das ist zum Schimpfwort verkommen – oder Psychose: Das ist abstrakt, die wenigsten Menschen können sich darunter etwas vorstellen. Besser ist es, die entsprechenden Auswirkungen zu beschreiben. Ein Mensch ist niedergeschlagen, hat Angstzustände, ist verwirrt, hat Wahrnehmungsstörungen, ist kraftlos oder hat zu viel Energie. Solch einfache Beschreibungen kann jeder nachvollziehen. Und sie decken die häufigsten Beeinträchtigungen ab.

`Psychisch krank´ ist wie ein Stempel. Der Mensch wird – dauerhaft – abgestempelt. `Psychiatrieerfahren´ drückt aus, dass es im Leben betroffener Menschen Krisen gibt, die aber nur selten ein Dauerzustand sind.

Bedeutet „psychiatrieerfahren“: Ein Mensch wurde in einer psychiatrischen Klinik behandelt?

Margarete Blank: Psychiatrieerfahren sind nicht nur Menschen, die stationär behandelt wurden, sondern auch alle, die z. B. von ihrem Arzt Psychopharmaka verordnet bekamen, eine Psychotherapie gemacht haben oder machen bzw. die Erfahrung mit einer psychischen Krise machen mussten.

Anders als z. B. viele Körperbehinderungen sind psychische Erkrankungen unsichtbar. Das Gleiche gilt für Barrieren, auf die betroffene Menschen stoßen. Was sind typische Barrieren?

Margarete Blank: Das Wichtigste ist die Haltung der anderen, z. B. des Partners, des Arbeitgebers, der Nachbarn, der Ärzte, der Verkäuferin in der Bäckerei. Menschen in einer Krise oder Menschen, die Psychopharmaka nehmen, verhalten sich anders. Häufig reagieren andere Leute darauf ablehnend, ungeduldig, sie meckern, machen Druck. Auch reißerische Medienberichte schüren Unsicherheit und Ängste im Umgang mit psychiatrieerfahrenen Menschen. In unserer Gesellschaft erlebt man oft soziale Kälte. Die Leute schotten sich ab, besonders, wenn sich ein anderer nicht normgerecht verhält.

Arbeitslosigkeit ist eine große Barriere. Viele Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung sind arbeitslos. Oft können sie sich einen Computer, ein Smartphone oder einen Internetzugang nicht leisten. Damit sind sie vom wichtigsten Medium für Informationen und Austausch und damit von der Teilhabe abgeschnitten. Übrigens haben auch viele Kliniken keinen oder nur sehr eingeschränkten Zugang zum Internet.

Martina Heland-Gräf: Eine verächtliche Haltung kann bei einem Menschen sogar ein Trauma auslösen, also eine lang anhaltende seelische Verletzung. Und Medikamente, Psychopharmaka, können zwar Symptome mindern, aber sie dämpfen auch das Erleben und die Aktivität – also ebenfalls die Chance zur Teilhabe. So können auch Medikamente Barrieren sein.

Was hilft Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung?

Margarete Blank: Nehmen Sie den Menschen ernst. Seien Sie geduldig, hören Sie zu, statt Vorurteile abzuspulen. Wer Neuroleptika einnimmt, schläft bis zu 14 Stunden am Tag. Da bleibt möglicherweise weniger Zeit für den Haushalt. Während einer Depression kommt ein Mensch morgens schwer in die Gänge. Jeder Handgriff fällt schwer. Ein anderer Mensch hat vielleicht Ängste, die für andere nicht nachvollziehbar sind. Und wieder ein anderer braucht lange an der Supermarktkasse oder kann sich am Fahrkartenschalter nicht so schnell entscheiden. Haben Sie Geduld. Fühlen Sie sich in den Menschen ein. Zeigen Sie, dass Sie den Menschen ernst nehmen und wertschätzen. Üben Sie keinen Druck aus. Viele weibliche Psychiatrie-Patienten haben Erfahrung mit Vergewaltigung. Ihnen tut eine Umgebung gut, in der sie sich sicher fühlen.

Meine Nachbarschaft hat mich in einer Krise erlebt. Ich war wie ausgestoßen. Ich bin geblieben, trotz der Ablehnung. Heute bin ich akzeptiert als eine Nachbarin, der es eben manchmal nicht so gut geht – und die manchmal auch um Rat gefragt wird.

Diese Haltung der Achtung muss sich in der Gesellschaft genauso wie in der stationären Behandlung etablieren. Deshalb fordern wir die Umsetzung des Soteria-Konzepts.

Nehmen Sie den betroffenen Menschen ernst. Seien Sie geduldig, hören Sie zu, statt Vorurteile abzuspulen. Zeigen Sie, dass Sie den Menschen wertschätzen.

Soteria – was ist das?

Margarete Blank: Soteria ist ein Konzept für die erfolgreiche Bewältigung psychiatrischer Krisen. Es entstand in den 70er-Jahren in den USA und kam über die Schweiz nach Deutschland. An die Stelle von hoch dosierten Medikamenten und Zwangsmaßnahmen wie der Fesselung tritt ein „aktives Dabeisein“, die Begleitung durch feste Bezugspersonen. Eine freundliche, zugewandte, offene Atmosphäre beruhigt und nimmt Ängste. Das Personal begegnet den Menschen in der Krise auf Augenhöhe und macht Angebote ohne Zwang. Die Betroffenen können die Krise durcharbeiten, ohne allein gelassen zu werden, und ein eigenes Konzept für sich entwickeln.

Soteria hilft übrigens nicht nur den betroffenen Menschen, sondern ist auch volkswirtschaftlich betrachtet von Nutzen. Die Methode wirkt nachhaltiger, viele Menschen können schneller in ihren Beruf zurückkehren.

Martina Heland-Gräf: Ähnlich funktioniert der Offene Dialog. Dabei begleitet ein Therapieteam den betroffenen Menschen an einem Ort seiner Wahl – nicht jedoch in stationärer Unterbringung. Die Methode wurde in Finnland entwickelt. Sie führte dazu, dass die Schizophrenie in Finnland so stark zurückgegangen ist, dass sie beinahe als „ausgestorben“ gilt.

Apropos Beruf: Viele Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung könnten arbeiten. Wie können Chefs und Kollegen sie unterstützen?

Martina Heland-Gräf: Gute Chefs und Kollegen verstehen, dass eine Führungsposition trotz Erkrankung möglich ist. Wer offen reden kann, spart sich Versteckspiele und kann seine Energie in die Arbeit investieren. Ganz wichtig ist also: Vertrauen und Zutrauen zu vermitteln. Druck vermeiden. Keinen Zeitdruck oder Machtdruck aufbauen!

Margarete Blank: Es sind auch scheinbare Kleinigkeiten. Manche Medikamente können Sehstörungen bewirken, andere sorgen für einen trockenen Mund. Bei Besprechungen sollte immer Wasser angeboten werden. Gutes Licht am Arbeitsplatz und in Konferenzräumen ist hilfreich, auch gute Computer-Bildschirme.

Martina Heland-Gräf: Auch ein Rückzugsort ist gut, z. B. ein Raum für eine Mittagsruhe.

Was können Selbsthilfegruppen bewirken?

Martina Heland-Gräf: Ziel der Selbsthilfe ist es, Stabilität zu finden durch Gespräche mit Peers. Das sind in diesem Fall Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, die meine Situation nachvollziehen können und genau verstehen, wovon ich spreche.

Margarete Blank: Das Tolle an der Selbsthilfe ist, dass man in diesem Austausch lernen kann, anders mit Situationen umzugehen.

Martina Heland-Gräf: Wir bieten Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung Informationen, ein Forum für den Austausch, rechtlichen Beistand. Mit unserer Arbeit nach außen wollen wir Vorurteile abbauen und die Situation von Psychiatrie-Patientinnen und -Patienten verbessern. Wir arbeiten auch an der flächendeckenden Einrichtung von Krisendiensten in Bayern mit.

Selbsthilfe sollte ja möglichst vor Ort angesiedelt sein. Wie gut ist Bayern denn schon versorgt?

Martina Heland-Gräf: In Südbayern gibt es schon viel mehr Gruppen als in Nordbayern. Auf unserer Website finden Interessierte die Adressen von Selbsthilfegruppen in Bayern. Eine Selbsthilfegruppe zu gründen, ist nicht einfach. Denn es bedeutet, dass die Betroffenen sich outen und an die Öffentlichkeit gehen müssen. Sie müssen Vermietern erklären, welche Gruppe sich in ihrem Raum treffen will. Sie müssen an die Medien herantreten, um andere Betroffene zu erreichen. Sie müssen sich mit bürokratischen Fragen herumschlagen. Dabei werden sie von ihren Ansprechpartnern begutachtet, bewertet und oft stigmatisiert.

Der Bayerische Landesverband ist schon lange aktiv …

Martina Heland-Gräf: Ja, er besteht seit 15 Jahren als eingetragener Verein. Heute haben wir rund 150 Mitglieder. Wir haben einiges erreicht. Die organisierte Selbsthilfe wird wahrgenommen und inzwischen mehr ernstgenommen. Mit unserer Website sind wir sichtbar im Internet. Wir werden gehört, wir sind in vielen Gremien vertreten. Das Bayerische Sozialministerium fördert über den Bezirk Oberbayern u. a. eine Personalstelle. Auch das ist ein Beitrag, um vorhandene Barrieren auszugleichen. Wir pflegen einen guten Kontakt zu Bürgerhelfern und Angehörigen. An verschiedenen Orten konnten wir schon Selbsthilfetage organisieren …

Margarete Blank: Das Thema Barrierefreiheit bearbeiten wir auch intensiv gesundheitspolitisch. Wir haben Empfehlungen zum Aktionsplan der Bayerischen Staatsregierung gegeben. U. a. engagieren wir uns für ein Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (PsychKHG) in Bayern. Darin müssen die Rechte, der Schutz und die Selbstbestimmung von Patientinnen und Patienten genauso festgeschrieben sein wie die Qualitätssicherung.

Linktipps

Glossar

Erklärung der Begriffe

Psychopharmaka

Psychopharmaka nennt man Medikamente, die Stoffwechselvorgänge im Gehirn beeinflussen. Sie werden zur Behandlung psychischer Störungen eingesetzt. Zu den Psychopharmaka zählen u. a. Antidepressiva und > Antipsychotika.

Neuroleptika (auch: Antipsychotika)

Diese Medikamente, die zu den Psychopharmaka zählen, können Symptome einer Psychose wie z. B. Halluzinationen, Wahnvorstellungen oder starke Unruhe mindern. Über Nutzen und Nachteile von Neuroleptika wird intensiv diskutiert, u. a. in trialogischen Gesprächen.

Trialog

In der Psychiatrie: gleichberechtigter Austausch zwischen Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung, deren Angehörigen und Fachleuten bzw. medizinischem/therapeutischem Personal (im religiösen Bereich: Austausch zwischen Christentum, Judentum und Islam).

Bürgerhelferin, Bürgerhelfer

Bürgerhelferinnen und Bürgerhelfer unterstützen Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung ehrenamtlich. Sie arbeiten in stationären Einrichtungen und in der ambulanten Hilfe. Ziel ist es, betroffenen Menschen soziale Kontakte und eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.