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Im Gespräch mit … Britta Achterkamp und Tom Asam

München, November 2015. Der Fachdienst Integration Taubblinder Menschen (ITM) betreut Menschen in ganz Bayern, deren Gehör und Sehkraft stark eingeschränkt sind. Für viele von ihnen ist die wichtigste Hilfe eine ehrenamtliche Assistenz. Bald soll es ein eigenständiges Merkzeichen für Taubblindheit geben.

Finger streicht über einen Lorm-Handschuh.

Über Britta Achterkamp

 

Porträtfoto: Britta Achterkamp.

Britta Achterkamp leitet den Fachdienst Integration Taubblinder Menschen (ITM). Die Geisteswissenschaftlerin stieg zunächst in die Verwaltung des ITM ein. Heute ist sie für die bayernweiten Aktivitäten des Fachdienstes verantwortlich.

Meine Meinung

„Barrierefreiheit bedeutet für mich: Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, in allen Bereichen. Für taubblinde Menschen sind das vor allem die Kommunikation, Orientierung und Mobilität.“

Über Tom Asam

 

Porträtfoto Tom Asam

Der Sozialpädagoge Tom Asam ist Referent beim Fachdienst Integration Taubblinder Menschen (ITM). An seinem ersten Arbeitstag beim ITM nahm er an einem Treffen von taubblinden Menschen teil. „Die Freude über mein Interesse war riesig.“ Asam ließ sich anstecken und blieb. Heute hat er gute Kenntnisse in der Deutschen Gebärdensprache und gibt selbst Kurse im Lormen.

Meine Meinung

„Barrierefreiheit ist für mich kein Ziel, das man eines Tages erreicht, sondern ein Prozess, den wir immer weiter vorantreiben müssen – gemeinsam! Der Staat kann nur den Rahmen vorgeben. Damit wir ihn ausfüllen, muss die Idee in möglichst vielen Köpfen ankommen.“

„Selbst bestimmen und entscheiden“


Frau Achterkamp, Herr Asam, „taubblind“: Was bedeutet das?

Britta Achterkamp: Taubblinde und hörsehbehinderte Menschen können gar nicht oder nur sehr eingeschränkt hören und sehen. Ihnen fehlen also beide sogenannten Fernsinne.

Ist Taubblindheit angeboren?

Tom Asam: Es kommt vor, dass Menschen komplett taub und blind zur Welt kommen. Sie sind oft von weiteren Behinderungen und kognitiven Einschränkungen betroffen. Kommunikation ist dann nur in einem sehr beschränkten Rahmen möglich. Die betroffenen Menschen leben meist in Einrichtungen und brauchen die ständige Unterstützung von Fachkräften.

Die häufigste Ursache für die Kombination einer Hör- und Sehbehinderung ist jedoch das Usher-Syndrom. Es wird autosomal rezessiv vererbt. Die betroffenen Menschen kommen gehörlos oder schwerhörig zur Welt. Erst später lässt dann auch die Sehkraft nach und das Blickfeld schränkt sich ein. Wir betreuen Menschen mit erworbener Taubblindheit – also diejenigen, die einen oder beide Sinne erst nach der Geburt verloren haben. Das kann auch durch Erkrankungen im Alter oder Unfälle passieren.

Taubblindheit und Barrieren – was sind die wichtigsten Stichworte?

Tom Asam: Für taubblinde Menschen bedeutet Barrierefreiheit weit mehr als den Abbau von baulichen Hürden. Auch in einer optimal gestalteten Umwelt brauchen viele Betroffene Assistenzleistungen, die Kommunikation, Informationsbeschaffung und Mobilität sicherstellen – und damit die Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen.

Britta Achterkamp: Die Isolation ist ein riesiges Problem. Menschen, die beide Fernsinne verlieren, fallen komplett aus ihrer Welt.

Tom Asam: Ein Kollege aus der Schweiz arbeitet mit einem guten Beispiel. Stellen Sie sich vor, Sie verlassen Ihre Wohnung, treffen eine Nachbarin. Wenn Sie blind sind, hören Sie ihren Gruß. Wenn Sie gehörlos sind, sehen Sie sie winken. Wenn Sie taubblind sind, nehmen Sie vermutlich gar nicht wahr, dass die Nachbarin da ist.

Wie können taubblinde Menschen sich mit anderen austauschen?

Tom Asam: Das ist ganz unterschiedlich. Gehörlose Menschen sind in der Regel in der Gebärdensprache zu Hause. Wenn sie erblinden, können sie diese durch die taktile Gebärdensprache ergänzen. Dabei legen sie ihre Hände auf die des Gesprächspartners und spüren so dessen Gebärden. Dafür müssen aber beide Partner sehr gut gebärden!

Eine andere Kommunikationsform ist das Lormen. Dabei tippt oder streicht man bestimmte Stellen der Handfläche des Gesprächspartners. Jeder Buchstabe hat seinen festgelegten Platz.

Viele blinde Menschen sind mit der Brailleschrift vertraut. Sie nutzen sie auch wenn sie ertauben weiter, um zu lesen, im Internet zu recherchieren, E-Mails zu schreiben. Wenn noch Hörreste vorhanden sind, können Betroffene auch mit der Sprachausgabe am PC arbeiten.

„Barrierefreiheit“ bedeutet: Menschen können an allen Lebensbereichen teilhaben. Wie gelingt das für taubblinde und hörsehbehinderte Menschen?

Britta Achterkamp: Das wichtigste „Hilfsmittel“ sind Assistentinnen und Assistenten. Sie sind für taubblinde Menschen das Tor zur Welt. Taubblinde sehen mit den Augen ihrer Assistenz und hören durch deren Ohren.

Das wichtigste `Hilfsmittel´ für einen taubblinden Menschen ist seine Assistentin oder sein Assistent.

Wer sind die Taubblinden-Assistenten?

Britta Achterkamp: Ehrenamtliche Helferinnen und Helfer. Einige von ihnen haben die Qualifizierungsmaßnahme des GIB-BLWG in Nürnberg durchlaufen. Dort werden Kenntnisse in der Deutschen Gebärdensprache vorausgesetzt. Ziel ist es, qualifizierte Taubblinden-Assistenten zu gewinnen, die alle die unterschiedlichen Kommunikationsformen der Taubblinden beherrschen.

ITM bietet daneben einen niederschwelligen Einführungskurs an. Denn es gibt viele taubblinde Menschen, die nicht die (taktile) Gebärdensprache nutzen, sondern vorwiegend lormen.

Oft sind die Ehrenamtlichen Studierende aus entsprechenden Fachrichtungen, aber auch Rentnerinnen und Rentner. Wenn wir eine Anfrage bekommen, mailen wir sie in unser Netzwerk. Das kann jemand sein, der eine Stunde lang eine Begleitung beim Behördengang braucht, zum Schwimmen gehen oder eine einwöchige Freizeit mitmachen möchte! Wer von den Assistentinnen und Assistenten in der Nähe wohnt und Zeit hat, meldet sich. So ergeben sich mit der Zeit eingespielte Partner.

Ist es schwierig, das Lormen zu lernen?

Tom Asam: Nein, das ist relativ einfach, weil es auf unserer Schriftsprache basiert. Man muss gesehen haben, wie und wo auf dem Handteller die einzelnen Buchstaben dargestellt werden – und dann ist es Übungssache. Im Gegensatz zur Gebärdensprache, die eine eigenständige Sprache ist und z. B. eine eigene Grammatik hat.

Als ich beim ITM angefangen habe, musste ich das Lormen und die Gebärdensprache lernen. Beim Gebärden habe ich Mittelstufenniveau erreicht; das Lormen unterrichte ich längst selbst.

Was müssen ehrenamtliche Assistenten mitbringen?

Britta Achterkamp: Sie dürfen, buchstäblich, keine Berührungsängste haben. Sie müssen eine gewisse Fähigkeit zur Empathie mitbringen, sich aber gegebenenfalls auch abgrenzen können. Sie müssen sich bewusst machen: „Der taubblinde Mensch entscheidet selbst. Ich bin in diesem Moment in erster Linie für die Sicherung der Kommunikation und Mobilität zuständig!“

Natürlich entwickelt sich aus der Zusammenarbeit oft eine Freundschaft … Wer einmal angefangen hat, macht meist weiter – oder kommt wieder! Z. B. Frauen, die nach dem Studium arbeiten, mit der Assistenz pausieren, aber dann in der Elternzeit weitermachen.

Übrigens: Wir haben hörende, schwerhörige und gehörlose Assistentinnen und Assistenten.

Was bieten Sie taubblinden und hörsehbehinderten Menschen außer der Assistenz-Vermittlung an?

Tom Asam: Wir sind oft die erste Anlaufstelle für taubblinde Menschen in Bayern. Wir beraten betroffene Menschen und ihre Angehörigen. Im nächsten Schritt suchen wir für sie passende Berater vor Ort; bei Bedarf versuchen wir, passende Assistenten in der Umgebung ihres Wohnorts zu finden. In größeren Städten wie München und Nürnberg ist das Angebot schon ganz gut, in ländlichen Gebieten ist es oft schwierig.

Wir bieten Treffen und Seminare für Betroffene und Angehörige an und unterstützen die Selbsthilfe. Wir organisieren Besuche und Ausflüge. Und wir haben Bildungsangebote für Betroffene und Fachleute.

Wie läuft ein Ausflug ab?

Tom Asam: Wir überlegen gemeinsam mit den taubblinden Menschen, was wir unternehmen könnten. Das sind viele gar nicht gewohnt: selbst zu bestimmen und zu entscheiden!

Wir waren z. B. im Ägyptischen Museum und im Nationalmuseum in München. Im Vorfeld gibt es viel zu organisieren. Wir kontaktieren das Museumspädagogische Zentrum, die Leitung der Museen … Teilweise stoßen wir anfangs auf Skepsis: Eine Führung für taubblinde Menschen zu organisieren, trauen sich die Verantwortlichen oft nicht zu. Aber die nötigen Assistenten und Dolmetscher bringen wir ja selbst mit. Und wenn man in Ruhe erklärt, worauf es ankommt und wie der Besuch abläuft, werden die Leute schnell neugierig. Hinterher waren eigentlich immer alle Beteiligten begeistert. Einmal hat ein Experte eine Stunde lang detailliert die vielen Schritte beim Guss einer Bronzefigur erklärt. Die taubblinden Menschen konnten Modelle abtasten, vom ersten Entwurf bis zum fertigen Ausstellungsstück. Gebärdendolmetscher haben übersetzt, Assistenten gelormt … Es war ein Riesentrubel und alle fanden es toll.

Es war ein Riesentrubel und alle fanden es toll.

Gesucht: ehrenamtliche Hilfe!

Wer selbst Barrieren abbauen möchte, kann sich in Seminaren oder Lehrgängen zur Taubblinden-Assistenz fortbilden. Wenn Sie Interesse haben, „Auge und Ohr“ für taubblinde Menschen zu sein, wenden Sie sich an: Fachdienst Integration Taubblinder Menschen (ITM)

Schwanthalerstraße 76, Rückgebäude
80336 München
Telefon: (089) 551 966-82 oder -83
Fax: (089) 551 966-84

Umfassende Qualifizierungs-Lehrgänge bietet das Bayerische Institut zur Kommunikationsförderung für Menschen mit Hörbehinderung (GIB) an.
Zur Website des GIB

Glossar

Erklärung der Begriffe

Autosomal rezessiv

Autosomal rezessiv vererbte Krankheiten oder Behinderungen (wie das Usher-Syndrom) treten nur auf, wenn die Chromosomen von Mutter UND Vater verändert sind. Die Eltern selbst sind dabei nicht unbedingt erkrankt.

GIB-BLWG

GIB-BLWG – Bayerisches Institut zur Kommunikationsförderung für Menschen mit Hörbehinderung:

Das Gehörlosen Institut Bayern (GIB) wurde 1999 gegründet, um im Sinne der gleichberechtigten Teilhabe die Kommunikation zwischen hörbehinderten und hörenden Menschen in Bayern zu verbessern. Seit 2012 untersteht das GIB der Trägerschaft des BLWG – Bayerischer Landesverband für die Wohlfahrt Gehörgeschädigter e. V. – in München. Heute steht GIB für „Gesellschaft Inklusion Bildung".

Merkzeichen

Im Schwerbehindertenausweis geben Merkzeichen u. a. die Art der Behinderung oder einen besonderen Hilfebedarf an. „G“ steht für eine erhebliche Gehbehinderung, „Bl“ für Blindheit, „B“ für die Notwendigkeit ständiger Begleitung. Die Merkzeichen belegen u. a. das Recht auf bestimmte Sozialleistungen. Ein Merkzeichen für Taubblindheit wird derzeit von Bund und Ländern erarbeitet.

Weitere Infos bietet des ZBFS.